Darf man sein Leben einem höheren Risiko aussetzen?

■ Es kommt ja bei nicht wenigen Menschen gelegentlich zu Situationen im Leben, die mit einem nicht unbedeutenden Risiko für ihre Gesundheit verbunden sind. Bisweilen könnte dann sogar auch ihr Leben auf dem Spiel stehen. Oder man überlegt sich, einen Beruf zu wählen oder Freizeitaktivitäten zu unternehmen, die mit entsprechenden Gefahren verbunden sein könnten. So fragt man sich, wieweit man denn da aus moraltheologischer Sicht grundsätzlich gehen dürfte, wenn neben der Gesundheit eben sogar auch das eigene Leben einer nennenswerten Gefährdung ausgesetzt werden würde.
Nun, grundsätzlich formuliert die katholische Kirche ihre Antwort darauf folgendermaßen: „Der Mensch ist nur Verwalter von Leib und Leben. Er hat bloß relatives Recht. Jede frevelhafte Beschädigung und Vernichtung ist unsittlich.“ (Stelzenberger, J., Lehrbuch der Moraltheologie. Ferdinand Schöningh Paderborn 1965, S. 216.)
Daraus wird ersichtlich, dass der Mensch nie frei verfügen darf über sein Leben und seine Gesundheit, als ob er da der eigene Herr über sein Leben und seine Gesundheit wäre. Dies ist nach christlichem Welt- und Menschenbild nur der Herrgott, der uns erschaffen hat und am Leben erhält! Somit kann und darf nur Er allein entscheiden – in Seiner Allwissenheit und Göttlichen Vorsehung! -, wann und wie ein begonnenes Menschenleben, ob bereits geboren oder im Mutterleib noch ungeboren, schlussendlich zu enden hat. Jede mutwillige und somit aus Leichtsinn oder Leichtfertigkeit verursachte Gefährdung, Verkürzung bzw. Beendigung des eigenen oder fremden Lebens ist höchst unsittlich.
■ Dennoch spricht die katholische Kirche auch davon, dass es bei Vorlage von bestimmten Gründen und Voraussetzungen sogar auch eine Pflicht sein kann, sein eigenes Leben einer großen Gefahr auszusetzen, ja sogar den praktisch sicheren Tod in Kauf zu nehmen. So benennt sie in diesem Zusammenhang konkret drei solcher Gründe:
„Pflichtgemäß ist die Hingabe von Leben und Gesundheit: Leib und Leben sind in der Werteordnung der basileia (der Königsherrschaft Gottes – Anm.) nicht die höchsten Güter. Auch in der Königsherrschaft Gottes gilt: `Das Leben ist der Güter höchstes nicht` (Fr. v. Schiller, Braut von Messina, Schluss). Höher als Leib und Leben steht das Heil (soteria). Relative Werte dürfen zugunsten höherer geopfert werden.
1. aus Glaubenstreue (Martyrium für Christus und seine basileia Mt 10,39);
2. in Erfüllung des Berufes als Mutter, Arzt, Geistlicher, Missionar, Polizei, Bergungsdienst usw. `Größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde` (Joh 15,13);
3. für das Gemeinwohl (Verteidigung des Vaterlandes, öffentlicher Dienst usw.).“
Erstens wird uns hier eine Nachricht mitgeteilt, die auf einen im liberal-materialistischen Geist erzogenen Menschen wohl wie ein Schock wirken muss: Das physische Leben ist nicht das allerhöchste Gut eines Menschen! Zusammengefasst: die Ehre Gottes und damit zusammenhängend das Heil der Seele sind da noch höhere, ja die höchsten Güter! Somit hat der Mensch unter Umständen sogar die moralische Pflicht, sein Leben „für seine Freunde“ hinzugeben. Das soll jedem eine etwaige rosarote Brille der Naivität und einseitiger Lebensträume abnehmen bzw. ihm schon in jungen Jahren den Ernst des Lebens vor Augen führen lassen!
Der Lehre Jesu Christi in Mt 10,39 folgend („Wer sein Leben gewinnt, wird es verlieren; und wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“) haben ja im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche katholische Christen sogar auch ihr Leben bewusst geopfert, um ihre Treue zu Gott und Seiner Wahrheit unter Beweis zu stellen. Wir wissen ja, wie oft wir im Leben durch verschiedene Umstände zu Entscheidungen aufgerufen werden, sich entweder zu Jesus Christus und Seiner Kirche in aller erforderlichen Konsequenz zu bekennen und somit mitunter auch nennenswerte Nachteile in Kauf zu nehmen, oder doch falsche Kompromisse mit der Unwahrheit und dem Zeitgeist einzugehen und auf diese Weise eben mehr an berühmter „Ruhe“ zu erhalten.
Wer kann denn ausschließen, dass diese Nachteile dann nicht auch einmal wesentlich größeren Umfangs werden bzw. dann auch unsere Freiheit oder sogar unser Leben auf dem Spiel stehen würden? Jesus sprach diesbezüglich jedenfalls ohne falsche Rücksichten auf irgendwelche menschlichen Befindlichkeiten: „Der Jünger steht nicht über dem Meister und der Knecht nicht über seinem Herrn. Der Jünger muss zufrieden sein, wenn es ihm geht wie seinem Meister, und der Knecht, wenn es ihm geht wie seinem Herrn. Hat man den Hausherrn Beelzebub geschmäht, um wieviel mehr seine Hausgenossen.“ (Mt 10,25.)
Und wie oft kommt es vor, dass eine werdende Mutter durch die Komplikationen einer Schwangerschaft oder eine eigene ernsthafte Erkrankung vor die Wahl gestellt werde, entweder neben dem Tumor auch das Kind in einer OP zu „beseitigen“ und so selbst hohe Chancen aufs Weiterleben zu haben oder doch z.B. auf eine erforderliche OP oder Chemotherapie zu verzichten, damit das Kind in ihrem Schoß sich unbedingt weiter entwickeln und soweit möglich gesund geboren werden kann, die Mutter selbst dann aber durch das betreffende Hinauszögern der entsprechenden Behandlung alle Chancen auf Heilung verliert und somit praktisch ihr eigenes Todesurteil unterschreibt. Solche Mütter sind wahrhaft Heldinnen, die ihr Leben um des Überlebens eines anderen Menschen bewusst opfern!
Ebenso kann sich z.B. ein Feuerwehrmann oder ein Mitglied eines Bergungsteams vor die Wahl gestellt sehen, entweder noch mehr eigenes Risiko einzugehen und dabei aber mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Menschen in Not zu retten, oder doch unbedingt Priorität den eigenen Chancen zu geben, heil aus der Sache herauszukommen, auch wenn die anderen durch seinen nun aus Rücksicht auf sich selbst unterlassenen größeren Einsatz die berechtigterweise anzunehmende Chancen auf Rettung verlieren.
Oder man stelle sich vor, ein Retter hilft Menschen auf See, die etwa nach Schiffbruch im Wasser zu ertrinken drohen und mittels eines Hubschraubers einzeln durch ein heruntergelassenes Seil gerettet werden. Er lässt immer andere vor und obwohl er, sich im Wasser befindend, irgendwann selbst am Ende seiner Kräfte ist, gibt er auch noch dem nächsten Schiffbrüchigen den Vortritt, wissentlich das eigene Ertrinken in Kauf nehmend. Damit erfüllt dieser Retter „nur“ heldenhaft seine Berufspflicht, die anderen vor dem praktisch sicheren Tod zu retten. Geht ja, dem Berufsethos folgend, auch jeder Schiffskapitän als letzter von Bord!
Das Wissen um die eigene Berufspflicht sollte daher ebenfalls besonders allen jungen Menschen ernsthaft vor Augen gebracht und immer wieder eingeschärft werden. Zumal in der heutigen Zeit, wo man zwar viel von den Rechten, aber kaum von damit einhergehenden Pflichten spricht. Denn man geht auch mit der Wahl und Erlangung eines jeden Berufs gewisse berufliche wie ethische Pflichten ein, die einen unter Umständen um der Rettung anderer willen sogar zum heroischen Riskieren des eigenen Lebens veranlassen können.
Analog kann sich z.B. auch ein Armeeangehöriger in eine Situation gestellt sehen, sein Leben durch eine sehr gewagte Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbst der direkten Todesgefahr auszusetzen, aber dadurch doch in der konkreten Situation entweder die eigenen Kameraden von der vernichtenden Feuerkraft des Feindes herauszuhalten oder der Zivilbevölkerung ein Entkommen vom Feind und somit von Folter, schwerer Gefangenschaft oder dem sicheren Tod zu ermöglichen.
In allen solchen Fällen spricht die Kirche sogar von einer betreffenden Berufs- oder Mutterpflicht, die nicht hoch genug bewertet werden kann.
■ Dagegen verhält sich die Sachlage ganz anders, wenn es sich dabei z.B. um eine private Freizeitbeschäftigung handelt und man daher aus keinem der drei oben genannten Gründe zum Riskieren der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens veranlasst geschweige denn dazu eigentlich verpflichtet wäre. In einem solchen Fall kann es nicht legitim sein, sein Leben einem übermäßigen Risiko auszusetzen – dies kann sogar höchst unmoralisch und somit eine schwere Sünde sein!
So heißt es in demselben Moraltheologie-Buch von Stelzenberger auf S. 216: „Unsittlich ist auch jede mutwillige Gefährdung des Lebens. Hierher zählt Tollkühnheit, leichtfertige Verwegenheit, falscher Ehrgeiz, unsinnige Rekordsucht usw. Jeder muss seine persönlichen Kräfte und sein Leistungsvermögen kennen und sich danach richten (vgl. S.th. II II q. 127 de audacia).“
Hört man denn nicht bisweilen von Wetten, die etwa aus Gründen eines überhöhten persönlichen Stolzes oder der krankhaften Eitelkeit eingegangen werden und Taten zur Folge haben, die das Leben des Betreffenden einer sehr hohen Gefahr aussetzen, ob es sich hierbei etwa um einen Sprung ins Wasser von einem hohen Felsen oder das ungesicherte Felsenklettern im Hochgebirge handelt. Vielleicht ist zu dieser Kategorie auch das Bungee-Springen o.ä. einzuordnen. Oder man unternimmt gewagte Aktionen hauptsächlich zum Zweck der Erlangung eines starken Adrenalin-Kicks, zumal wenn die Maßnahmen der Absicherung nach objektiver Beurteilung der Fachleute definitiv nicht hinreichend sind. Das alles wäre definitiv unverantwortlicher Leichtsinn.
Braucht denn ein innerlich starker Mensch mit gesundem Selbstbewusstsein wirklich, solche Versuche tollkühner, aber eindeutig gefährlicher und somit verantwortungsloser Aktivitäten zu unternehmen, um die Bestätigung durch andere oder auch nur eine sogenannte Selbstbestätigung zu erlangen? Sicher nicht. Denn er definiert sich selbst keinesfalls durch eine solche Art von „Mut“ und „Tapferkeit“!
Zweifelsohne kann man nicht generell untersagen, z.B. auf hohe Berge zu steigen, den Beruf eines Militärpiloten zu ergreifen oder als Berufsastronaut ins Weltall zu fliegen. Aber da spielt dann neben der betreffenden Motivation auch die Frage nach einer guten geistigen wie physischen Vorbereitung bzw. nach einer verantwortungsbewussten Absicherung eine entscheidende Rolle. So erzählte einmal ein höherer Offizier der Deutschen Luftwaffe als Verantwortlicher für die Ausbildung von Kampfpiloten in einem Interview, dass sie bei der Auswahl der Kandidaten nicht nur darauf verstärkt achten, ob diese psychisch gefestigt und physisch trainiert sind, sondern auch, ob sie eventuell eine draufgängerisch-aggressive Mentalität an den Tag legten. Denn solche Leute seien da generell nicht geeignet, weil sie in einem Notfall nicht hinreichend ruhig und gefasst nachdenken und an der Problemlösung arbeiten könnten.
Wie groß war meine Überraschung, als ich vor ungefähr zehn Jahren im Stuttgarter Flughafen einmal den wohl berühmtesten und erfolgreichsten Extrembergsteiger des 20. Jahrhunderts, Reinhold Messner, getroffen habe. Er stellte sich nämlich im Terminal in der Warteschlange vor der Personenkontrolle direkt hinter mich hin. Nach 20-30 Sekunden der Stille wechselten wir einige wenige Sätze miteinander. Aber auch da fiel mir auf, wie ruhig er wirkte und überhaupt nichts vom Draufgängerischen oder Hasardeurhaften an sich hatte.
Eine Art von analogem Gegenbeispiel wurde am Fall zweier russischer Bergsteiger anschaulich, die Ende Juli 2018 im pakistanischen Hochgebirge nach erfolgloser Besteigung eines Berges von ca. 7100 Meter Höhe und dem darauffolgenden Abstieg etwa auf der Höhe von 6200 Metern in eine extreme Situation kamen. Einer der beiden Männer stürzte tödlich ab mit einem Teil der Ausrüstung, der andere konnte sich irgendwie halten – auf einem Hang mit 70%-tiger Neigung. Nach 5 Tagen wurde er endlich gerettet, wobei die eingesetzten pakistanischen Hubschrauber-Militärpiloten in einer sehr gefährlichen Aktion ihr ganzes fliegerisches Können zeigen mussten.
Zwar waren in Russland alle erleichtert nach der Rettung dieses zweiten Landsmannes, aber nicht wenige stellten daraufhin öffentlich die Frage, ob denn eine solche Besteigung nicht generell verantwortungslos gewesen sei. Denn früher, sagten sie, sei man auf eine solche schwierige Tour in einem Team von ca. 16 Alpinisten losgegangen, wobei man sich dann besser gegenseitig habe absichern und einander zur Hilfe eilen können. Jetzt aber sind diese beiden Männer allein gegangen. Früher habe man sich auch mehr mit der Frage nach einem möglichst sicheren Abstieg vom Berg beschäftigt. Diese beiden aber hätten durch ihre zu riskante Aktion nicht nur sich selbst, sondern sowohl die betreffenden pakistanischen Piloten als auch eine Reihe anderer an der Rettungsaktion beteiligter Menschen einer großen Lebensgefahr ausgesetzt, ob diese nun in den betreffenden Hubschraubern mitflogen oder von weiter unten nach oben zur Hilfe eilten. Jedenfalls habe es zuvor, und das ist wohl mitentscheidend, schon 26 Versuche gegeben, diesen Berg zu besteigen, alle davon erfolglos!
Ein anderer Umstand, der wohl ebenfalls mitberücksichtigt werden muss beim Eingehen von gewissen Risiken, ist die Stellung des betreffenden Menschen in Familie, Gesellschaft und Kirche. Denn manche Gruppen von Menschen müssen allein schon aufgrund ihrer betreffenden Verantwortung private Aktivitäten mit erhöhten Risiken möglichst meiden.
So erzählte einmal ein glaubenstreuer Priester, wie er in seinen jungen Priesterjahren einmal auf einem Fahrrad einen steilen Hang hinuntergefahren ist, wobei er sehr den Rausch einer entsprechend sehr hohen Geschwindigkeit genossen habe. Und zwar hatte er dabei weder einen Fahrradhelm noch irgendeine sonstige Schutzausrüstung an. Später, sagte er, sei es ihm bewusst geworden, dass er nie so etwas hätte machen dürfen, weil er nicht nur sich selbst einer nennenswerten Gefahr ausgesetzt habe (wie schnell unterläuft da einem ein Fehler!), sondern indirekt auch seine wichtige Rolle als sehr gebrauchter Verwalter der hl. Sakramente im Leben der wahren katholischen Kirche ignoriert habe.
So müssten dann wohl auch alle Väter und Mütter, die vor allem kleine Kinder haben, sich dreimal überlegen, ob sie diese oder jene Freizeitaktivität unternehmen sollen, die mit einem gewissen Risiko verbunden ist – dabei eben auch an ihre Verantwortung ihren Kindern gegenüber denkend.
■ Die Kirche sieht den Leib grundsätzlich als ein Lehen Gottes und die Gesundheit als ein hohes irdisches Gut an. Daher dürfen beide weder mutwillig noch leichtfertig geschädigt werden – weder durch einen ungesunden Lebensstil noch durch das Rauchen, den Drogen- und übermäßigen Alkoholkonsum. Der Mensch hat im Gegenteil sogar die sittliche Pflicht, alle vernünftigen Mittel einzusetzen, um sowohl sein eigenes als auch fremdes Leben zu erhalten bzw. im Krankheitsfall den Gesundheitszustand zu verbessern. Dazu gehört dann sowohl der Bereich der Medikamente als auch der einer vernünftigen körperlichen Ertüchtigung sowie geistigen Bildung.
Notwendig erscheinende und somit Hilfe versprechende Operationen dürfen selbstverständig vorgenommen werden. Allerdings dürfte man solche Eingriffe ablehnen, die entweder unverhältnismäßig Kosten für den Patienten oder seine Familie verursachen oder zu gefährlich sind.
Insgesamt sieht man, dass der Mensch auf der einen Seite nicht für diese Welt allein geschaffen worden ist oder in ihr seine letztendliche und sinnstiftende Bestimmung finden kann. Somit müsste er seine irdische Existenz eben höheren Zielen und Zwecken unterstellen und notfalls sogar opfern. Auf der anderen Seite trägt der Mensch auch eine große Verantwortung für sein Leben und seine Gesundheit, wofür wir alle uns einmal ebenfalls werden verantworten müssen.

P. Eugen Rissling

 

 

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